850 Jahre ist es her, seit Wisente frei durch Westeuropas Wälder gestreift sind. Nun soll das Wisent-Projekt die Wiederansiedlung von Europas größtem Landsäuger im südwestfälischen Rothaargebirge ermöglichen.Sie haben länger in Westeuropa gelebt als das Haushuhn, und dennoch sind sie den Wenigsten als typische heimische Waldbewohner ein Begriff: Wisente, die etwas kleineren Vetter des amerikanischen Bisons, die mit einer Körperlänge von bis zu 3,5 Metern, einer Schulterhöhe von bis zu 2 Metern und dem Gewicht eines Kleinwagens (bis zu 1000 kg) immer noch beachtliche Maße vorweisen können. Diese in unseren Gefilden ungewohnte, majestätische Größe wurde den Wildtieren leider auch zum Verhängnis: Im Spätmittelalter hat der europäische Hochadel die Giganten zur begehrten Jagdtrophäe auserkoren.
Ursprünglich erstreckte sich die Verbreitung der mächtigen Tiere über ganz West-, Zentral- und Südosteuropa bis hin in den asiatischen Teil des früheren Russlands. Auf Grund unerbittlicher Jagden und Zerstörung des Lebensraums waren Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nur noch im polnischen Waldgebiet Bialowieza und im Kaukasus frei lebende Herden zu finden. In den Jahren 1919 bzw. 1927 wurden auch dort die jeweils letzten beiden frei lebenden Tiere geschossen, so dass der Wisent zu Beginn des 20. Jahrhunderts als nahezu ausgestorben galt. Nur noch 54 Exemplare mit klarer Abstammung überlebten in Gefangenschaft, wovon nur 12 Tiere zur Nachzucht geeignet waren.
Dass wir heute noch frei lebende Wisentherden vorfinden, gleicht somit einem Wunder. Doch intensive Zuchtbemühungen trugen dazu bei, dass sich der weltweite Bestand mittlerweile auf rund 4000 Tiere ausweiten konnte, von denen die Hälfte in der Wildnis leben. Derzeit gibt es 31 frei lebende Wisentgruppen in Polen, Weißrussland, Litauen, der Slowakei, der Ukraine und Russland – im gesamten westeuropäischen Raum existiert jedoch keine einzige wilde Herde mehr.
Wisent-Projekt: Auswilderung vorbereitet
Dies soll sich nun ändern: Im Rahmen eines einmaligen Artenschutzprojekts des Trägervereins Wisent-Welt-Wittgenstein e.V. wurden am 24. März 2010 die ersten acht Exemplare der Wildrinder in ein 88 Hektar großes Eingewöhnungsgehege im Kreis Siegen-Wittgenstein/Nordrhein-Westfalen entlassen. Dort werden die Tiere nun auf ihre erstmalige Auswilderung in Deutschland seit 850 Jahren vorbereitet. Ziel des Vorhabens ist die Etablierung einer frei lebenden Herde von 20 bis 25 Wisenten auf einer Fläche im Rothaargebirge, die mit ca. 4300 Hektar ungefähr der Größe von Manhattan entspricht.
„Damit soll nicht nur ein wesentlicher Beitrag zur Arterhaltung geleistet, sondern auch die ökologische Nische des Gras- und Rauhfutterfressers in heimischen Wäldern besetzt werden“, erklärt Jörg Tillmann, der die wissenschaftlichen Begleituntersuchungen des Projekts koordiniert. Denn die mächtigen Wiederkäuer erfüllen eine essentielle Funktion bei der Landschaftsentwicklung sowie beim Erhalt der Struktur- und Artenvielfalt.
Sechs Jahre Vorbereitung standen dem großen Tag der Entlassung in das Eingewöhnungsgehege bevor. Dort sollen die Leitkuh „Araneta“ und ihre sieben Artgenossen, die überwiegend aus deutschen Zuchtstätten stammen, nun die natürliche Scheu vor den Menschen wiedererlangen, einen festen Sozialverband gründen und sich fortpflanzen. „Nachwuchs wäre für das Projekt wichtig, denn eine Kuh fühlt sich in einer Gegend, in der sie ein Kalb großgezogen hat, auch heimisch“, weiß Wisent-Ranger Jochen Born, der im Schnitt fünf bis sechs Stunden täglich im Gehege der Tiere verbringt, und das an sieben Tagen die Woche.
Im Dezember 2011 war es dann auch soweit: Das Kälbchen, Tochter von Gutelaune und Egnar, ist bei klirrender Kälte auf die Welt gekommen. Nachdem die Wisent-Mutter keine Milch gab hat Ranger Born das Füttern mit der Flasche übernommen. Es bewohnt derzeit noch den Stall von Born, der sich ein Kuhkälbchen vom Nachbarn ausgeborgt hat, damit die junge Wisent-Dame nicht ganz allein ist. Im Frühsommer soll das Junge in die Wisent-Wildnis umsiedeln, wo es seine Artgenossen bereits erwarten.
Der Wisent-Wald, der im Privatbesitz von Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg steht, ist für Besucher frei zugänglich. Laut Umfragen freuen sich über 90 Prozent der Wanderer und mehr als drei Viertel der Bewohner der näheren Umgebung auf die gigantischen Urtiere, denn Gefahr besteht für den Menschen keine. Das einzige, was Naturliebhaber befürchten müssen, ist die große Unwahrscheinlichkeit einer Wisentbegegnung in freier Wildbahn, denn die Wildtiere sind extrem scheu: Bereits beim Anblick eines Menschen auf 100 Meter Entfernung ziehen sie sich zurück, und es ist bis heute nicht gelungen, die Tiere zu zähmen. Sogar Wisente, die im Zuchtreservat Bialowieza mit der Hand aufgezogen wurden, behalten Menschen gegenüber ein gewisses Misstrauen.
Schutz durch Nutzung
Um dennoch allen Besuchern den faszinierenden Anblick der majestätischen Tiere zu ermöglichen, wurde ein eigenes Schaugehege am Rothaarsteig eröffnet. Dort kann die Herde hautnah in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtet werden.
Das Wisent-Projekt bietet somit ausgezeichnetes Potential zur Ankurblung der touristischen und wirtschaftlichen Wertschöpfung der Region. Bereits heute besuchen jährlich rund 12 Millionen Touristen die abwechslungsreiche Waldgebirgslandschaft des Rothaarkamms, die bis zu 3500 Kilometer markierte Wanderwege bietet. Unter dem Motto „Schutz durch Nutzung“ soll eine entsprechende Vermarktung der Wisent-Ansiedlung weiterhin zunehmende Besucherströme garantieren.
Zudem soll das Projekt verdeutlichen, dass sogar im dichtbesiedelten Deutschland menschliche Nutzungsinteressen mit Lebensbedingungen der Wisente vereinbar sind, denn beinahe 300.000 Menschen leben in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wisenten.
„Ist die Wiederansiedlung erfolgreich, könnte sie ähnliche Projekte anregen und dazu beitragen, dass Wisente auch andernorts wieder Teil der heimischen Tierwelt werden“, wünscht sich Tillmann.
So bleibt zu hoffen, dass dem Wisent als letztem Vertreter der wildlebenden Rinderarten Europas das Schicksal des artverwandten Auerochsen erspart bleibt. Denn dieser einst schwerste und größte Landsäuger Europas wurde vor rund 1500 Jahren endgültig und unwiderruflich vom Menschen ausgerottet.
Zur Autorin: Mag. Kerstin Kopf, ehemals überzeugte Großstadtbewohnerin und mittlerweile stolze Wächterin über ein 10 Ar Grundstück im idyllischen Dreiländereck Österreich- Deutschland-Schweiz, wo sie erstmals einen eigenen Gemüsegarten bestellt und dabei von der gigantischen Aussicht auf Vorarlberger und Schweizer Berge inspiriert wird.
Photo (1+2): Horstguenter Siemon, Wisent-Welt Wittgenstein
Photo (3+4): Jörg Tillmann, Wisent-Welt Wittgenstein
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