Ein süßes Kraut startet durch – Teil I

das süße Kraut: SteviaStevia ist süß und seit kurzem als Lebensmittelzusatzstoff in der EU zugelassen. Die Nachfrage steigt enorm. Das süße Kraut hat seinen Ursprung in Paraguay. Die Bauern dort sind aber längst nicht mehr in der Lage, die weltweite Nachfrage zu decken. Deswegen hat sich der Anbau nach Fernost verlagert. Doch Stevia ist nicht gleich Stevia.

„Und mein Enkel hat keinen Karies mehr“, erzählt mir die Wiener Marktstandlerin mit einem stolzen Unterton. „Erstaunlich“, antworte ich und beginne mir die entspannten Stunden beim Zahnarzt vorzustellen. Die Standlerin verkauft an ihrem Marktstand alles andere, von dem ich annehme, Karies hemmend zu sein: Leckere Kekse, saftige Fruchtkuchen und süße Obstsäfte sind hübsch drapiert zum Verkauf angeboten. Gut sieht es schon aus, aber gesund? Ich weiß nicht. Während mein Blick über die köstlichen Plätzchen wandert, sehe ich plötzlich ein Pflänzchen so groß wie Basilikum. Das ist es also: das süße Kraut, oder auch Stevia genannt, Aus ihrer starken Süßkraft wird Süßstoff gewonnen und kann als Ersatzmittel zu Zucker verwendet werden.

Von den einen als Wundermittel gehypt, von den anderen geschmacklich niedergemacht. Sie komme nicht mal annähernd an den Geschmack von Zucker heran. Sie schmecke nach Lakritze. Und wer trinkt schon Kaffee mit Lakritze? Was steckt hinter diesem Kraut, das seinen Ursprung in Paraguay hat?

Stevia als Medizin

Seit Jahrhunderten wird Stevia Ribaudiana von der indigenen Bevölkerung Brasiliens und Paraguays als Süßstoff und Medizin genutzt. Im 16. Jahrhundert lernten die Europäer das Kraut kennen, die erste wissenschaftliche Beschreibung erfolgte erst Ende des 19. Jahrhunderts durch den aus dem Tessin nach Paraguay ausgewanderten Botaniker Moisés Santiago Bertoni. Stevia-Blätter sind 30 mal süßer als Rübenzucker und das Steviosid (auf Wasserbasis extrahiert) ist in seiner reiner Form 300 mal süßer. Daneben hat es kaum Kalorien, ist für Diabetiker geeignet und erhöht nicht den Blutzuckerspiegel. Noch dazu ist es plaquehemmend und wirkt vorbeugend gegen Karies.

Trotz dieser vielen positiven Eigenschaften, ist der aus den Stevia-Blättern gewonnene Süßstoff erst am 2. Dezember 2011 als Lebensmittelzusatzstoff in der EU zugelassen. Zuvor wurde zwar im Internet schon rege mit Stevia-Präparaten gehandelt, die als „Zahnpflegemittel“ deklariert wurden, um das allgemeine Verbot zu umgehen.

Seit vier Jahren betreibt die gebürtige Deutsche Petra Helmreich ihren Yerbabuena-Online Shop , in dem sie u. a. auch Stevia-Produkte an ihre Stammkunden weltweit verkauft. überLand sprach mit der in Paraguay lebenden Helmreich über die Produktion von Stevia und deren Chancen am Markt.

Kannstest Du Stevia bevor Du nach Paraguay gegangen bist?

Petra Helmreich: Ich bin 2006 gemeinsam mit meinem Mann aus Deutschland weg gegangen und lebe seither in Paraguay. Von Stevia hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gehört. Aber an Stevia kommt man hier in Paraguay nicht vorbei – Ka’a He’e, wie Stevia im Indianerdialekt Guarni genannt wird. Das kam mir schon relativ früh zu Ohren und weckte mein Interesse.

Gibt’s in Paraguay auch Zucker, oder wird dort alles mit Stevia gesüßt?

Petra Helmreich: Ja, in Paraguay gibt es Zucker, denn hier wird viel Zuckerrohr angepflanzt. Insbesondere der daraus gewonnene, braune Zucker ist ein Exportprodukt, denn er hat eine sehr gute Qualität und stammt überwiegend aus organischem Anbau. Die Paraguayer konsumieren sehr viel Süß, insbesondere in Limonaden. Leider alles Zuckerbomben. Stevia kommt hier erst ganz allmählich in die Lebensmittel. Ich weiß, das hört sich seltsam an, aber Stevia findet hier in Paraguay traditionell eher Verwendung als Heilkraut oder aber in den kalten Winterwochen, zum Süßen von Mate-Tee. Die Verwendung von Steviaprodukten (Pulver, Tropfen, Tabs etc.) auf Basis von Steviosid (Steviolglycosid) bleibt hierzulande den Reichen vorbehalten, denn Steviosid ist teuer. Ein Verpanschen von Stevia mit Haushaltszucker, wie es neuerdings in Deutschland oder Europa an den Verbraucher herangetragen wird, ist bei uns kein Thema. Allerdings gibt es auch hier Panschereien, vorwiegend bei Steviatropfen, die mit billigem Steviosid aus Fernost produziert werden und dann mit künstlichen Süßstoffen vermischt werden, um den bitteren Geschmack zu übertünchen.

Bleiben wir beim ehrlichen Stevia Was hat dieses süße Kraut für Vorteile?

Petra Helmreich: An erster Stelle die Natürlichkeit, denn Stevia ist kein künstliches Produkt, sondern eine Pflanze, die aufgrund Ihrer Inhaltsstoffe, süß schmeckt. Des Weiteren hat sie aber auch noch andere Vorzüge, wie z. B. plaquehemmend und beugt Karies vor, enthält Null Kalorien, wirkt regulierend auf den Blutzuckerspiegel, ist verdaungsfördernd, wirkt antibakteriell und ist nachweislich frei von unerwünschten Nebenwirkungen.

Was sind die Nachteile?

Petra Helmreich: Ich kenne keine. Wobei ich hier natürlich nur von unserem Stevia sprechen kann, das aus kontrolliertem biologischem Anbau in Paraguay stammt.

Stevia wird gerne als Wunderpflanze bezeichnet. Ist da was dran?

Petra Helmreich: Nein, Stevia ist keine Wunderpflanze. Ich verstehe nicht, weshalb die Werbung immer so dermaßen übertreiben muss. Ich finde man sollte auf dem Teppich bleiben. Auch ohne das Attribut „Wunderpflanze“ liegen die Vorteile der Stevia auf der Hand. Wer von Stevia das Wunder erwartet, über Nacht schlank werden zu können, oder vom Diabetes geheilt zu werden, wird enttäuscht werden. Wer Stevia jedoch nutzen möchte um seinen Zuckerkonsum einzuschränken oder zu ersetzen oder einen gesunden Ersatz für seine künstlichen und krebserregenden Süßstoffe sucht, oder wer grundsätzlich seiner Gesundheit etwas Gutes tun will, der wird in Stevia sein „Wunderkraut“ finden.

Was bedeutet die Produktion von Stevia für die Menschen in Paraguay?

Petra Helmreich: Paraguay ist das Heimatland der Stevia und hier gedeiht das beste Stevia der Welt. Auf diesem Wissen hat man sich hier leider etwas ausgeruht und es versäumt, rechtzeitig die Anbauflächen zu erweitern und sich am Markt zu positionieren. Derzeit kann Paraguay nur 15% des Bedarfs bzw. der Nachfrage decken und wird von Steviaproduzenten aus Fernost, die 85% der weltweiten Nachfrage decken, verdrängt. Paraguay baut derzeit nur auf einer Fläche von 2.000 Hektar Stevia an; um die steigende Nachfrage auch nur annähernd decken zu können, werden mindestens 10.000 Hektar benötigt. Regierungsprogramme zur Subventionierung des Steviaanbaus werden erst jetzt allmählich angekurbelt, ob sie auch umgesetzt werden ist natürlich eine andere Frage. Ich beziehe mein Stevia-Sortiment von einem offiziell zertifizierten Steviaproduzenten, der ebenso wie wir selbst, auf Nachhaltigkeit achtet. Dazu gehört nicht nur der ökologische Anbau, sondern auch die schonende Weiterverarbeitung auf Wasserbasis und natürlich die soziale Komponente der Mitarbeiter und Kleinbauern.

In der EU darf Stevia erst seit kurzem als Lebensmittelzusatzstoff verwendet werden, glaubst Du hat Zucker in Europa das bessere Lobbying?

Petra Helmreich: Die Zulassung in Europa bevorzugt ganz klar die Lebensmittelindustrie und die Süßwarenhersteller. Erst als diese sich aufgestellt hatten, fand das jahrelange Ringen um die Zulassung ein Ende. Der Verbraucher ist nun den seltsamsten Mischungen ausgeliefert. Die seltsamste ist konventioneller Zucker mit Stevia – darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Außerdem ist es so, dass die Lebensmittelindustrie überwiegend Stevia aus Fernost verwendet, weil dies in Monokulturen in großen Mengen produziert wird und deshalb billiger zu haben ist. Stevia aus Paraguay ist teurer, dafür aber um ein Vielfaches wertvoller. Doch letztendlich hat es der Verbraucher in der Hand und deshalb ist Aufklärung so wichtig.

Wird sich das süße Kraut Stevia – Deiner Meinunung nach – bald auch in Europa durchsetzen können?

Petra Helmreich: Durchsetzen wird sich Stevia schon, dafür sorgt allein schon die Werbung; aber ich glaube nicht, dass es den Zucker ablösen wird. Ich denke, Stevia wird als ein 100 prozentiger natürlicher Zuckerersatzstoff seine eigene Fangemeinde haben. Und ich hoffe, dass sich die Verbraucher qualitätsbewusst zeigen und nicht länger auf die Stevia-Werbe-Masche hereinfallen, wo allein die Erwähnung von „Stevia“ zum blinden Kauf führt. Es fehlt weiterhin an Aufklärung – und aus diesem Grund habe ich damals meinen Blog begonnen.

Ganz ehrlich, gibt’s Speisen oder Getränke, die Dir mit Stevia gesüßt gar nicht schmecken?

Petra Helmreich: Ich selbst bin überhaupt nicht süß veranlagt, aber ich muss sagen, dass mir mit Stevia gesüßte Speisen und Getränke sehr gut schmecken. Die Süße ist nicht so aggressiv, sondern eher mild. Besonders gut schmeckt es mir im Kräutertee und wo ich Stevia wirklich nicht mag, ist im Kaffee.

Danke für das Interview.

Ein Nachtrag: Bei meiner eingangs beschriebenen Standlerin habe ich auch natürlich die Kuchen getestet. Der Apfelstrudel mit Stevia war sehr gut, es war für mich kein Unterschied bemerkbar; der Topfenstrudel hingegen hat anders süß geschmeckt und war nicht so mein Fall. Die Partie Zucker gegen das süße Kraut endete mit einem persönlichen Gleichstand.

Zum Blog von Petra Helmreich: http://www.yerbabuenashop.wordpress.com

Photo (1): Barbara Kanzian, Photo (2, 3): Yerbabuena-Shop

2 Gedanken zu „Ein süßes Kraut startet durch – Teil I

  • 27. März 2012 um 08:39 Uhr
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    Sehr sehr spannend! Auch was die Bevorzugung der und die Konsumententäuschung durch die (Zucker)Industrie betrifft und die Umweltzerstörung durch die gehypten Konsumbedürfnisse der „1. Welt“.

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  • 19. April 2012 um 23:44 Uhr
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    Ein sehr interessanter Artikel. Ganz besonders hat mich erstaunt, dass in Paraguay auch Rohrzucker zum süßen benutzt wird. Hätte gedacht das besonders in Paraguay Stevia nicht nur einen traditionellen Hintergrund hat, sondern im Altag überall Verwendung findet.

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