Urban Farming ist weit mehr als ein Hype. Die urbanen Gärten sind nicht nur eine blühende und wohl riechen- de Abwechslung im Großstadt-dschungel, sondern sie sind oft auch die einzige Möglichkeit für Menschen, um zu frischem Obst und Gemüse zu kommen und schlussendlich auch zu einer kleinen Einkommensquelle. Benedikt Pestalozzi war in den Armenvierteln Sao Paolos unterwegs und schildert in Form von Briefen seine Eindrücke. Liebe Barbara
Ich schreibe Dir aus Zürich, kurz nach meiner Rückkehr aus Brasilien. Da besuchte ich eine Freundin aus Sao Paulo, der 20-Millionen-Stadt und dem Wirtschaftsmotor des riesigen Landes. Während meines Aufenthalts hatten wir die Gelegenheit, ein Entwicklungsprojekt mit Urban Agriculture in Sao Paulo zu besichtigen.
Cidade Sem Fome – Gemüsebau in Sao Paulos Favela
In der Woche vor meiner Ankunft gab es einen Bericht in der Folha Sao Paulo, der grössten Zeitung der Stadt über Vorsätze und Initiativen fürs neue Jahr, unter anderem einen Bericht über Cidade Sem Fome – Städte ohne Hunger, eine Organisation, die in der Zona Leste – dem Ostteil von Sao Paulo – für Bewohner ohne Einkommen Arbeit in urbanen Gärten ermöglicht. So sollen sie zu frischem Gemüse kommen und beim Verkauf von Überschüssigem etwas Geld verdienen. Da ich ja kurz zuvor meine Lizentiatsarbeit über urbane Gärten in Zürich geschrieben hatte, war ich natürlich an diesem Projekt interessiert und Hans Dieter Temp, der Gründer der Organisation, zeigte uns das Büro und zwei der Gärten und erzählte uns viel über das Zustandekommen, die Ziele und das Funktionieren des Unternehmens. Anders als die Projekte in Europa oder den USA, die in der Folge der Wirtschaftskrise oder im Fahrwasser des erfolgreichen Prinzessinnengartens in Berlin entstanden, begann Temp schon 2004 ein ungenütztes Stück Land zu bebauen. Er hatte es satt, jeden Morgen auf dem Weg zu seinem Auto an dem stinkenden und mit Abfall übersäten Grundstück vorbeizugehen und schlug dem Besitzer vor, es mit Blumen und Gemüse zu bestücken. Da er jedoch einen Vollzeitjob hatte, engagierte er einige arbeitslose Jugendliche, um den Garten zu unterhalten. Bald habe sich das Landstück zu einem Treffpunkt im Quartier gebildet, wo sich auch Mütter und Väter der Jugendlichen trafen. So kam Temp die Idee, mehr von solchen Gärten zu schaffen.
Die Schaffung von neuen Märkten
Bis heute hat er dank vielen Spendengeldern 21 Gärten, die rund 700 Personen beschäftigen, ein Büro, drei Mitarbeiter und ein Geschäftsauto. Alles gesponsert, zum Teil von Konzernen, die sonst nicht für ihr soziales Engagement bekannt sind, so z. B. der Energieriese Petrobras oder der Agrokonzern Syngenta. Die Hauptmotivation von Temp sei die Schaffung von Märkten. Welchen Nutzen seine Projekte für die Armenquartiere haben und welchen Effekt sie für das Image der genannten Grosskonzerne darstellen, ist Ermessenssache. Sicher ist, dass sich Hans engagiert und mit dem Absatz von frischem Gemüse in den Armenquartieren nicht nur den lokalen Lebensmittelmarkt aufmischt, sondern mit seiner Organisation auch den Markt der Entwicklungshilfe.
In den Gärten werden Lebensmittel kultiviert und mit dem Bekanntwerden der Organisation wächst die Idee, wie die Versorgung der Bevölkerung mit kleinem Aufwand und aus eigenem Antrieb zu bewältigen sein könnte. In allen Städten der Welt und ohne Lenkung durch die unsichtbare Hand des globalen Marktes oder der heilsversprechenden Großkonzerne.
So hoffen wir, dass diese Bewegung auch in Europa noch größere Sprossen treibt und Wurzeln schlägt und Urban Farming kein Hype bleibt, sondern Normalität wird. Wie die Gärten in der Zona Leste von Sao Paulo.
Tipp: Im zweiten Teil der Brasilien-Folge erzählt Benedikt Pestalozzi über den Besuch bei einem Imker im größten Tabakanbau-Gebiet im Süden des Landes.
Über den Autor: Benedikt Pestalozzi ist über_Land-Lesern kein Unbekannter. Schon als Jugendlicher machte er seine ersten landwirtschaftlichen Erfahrungen über den Agriviva-Landdienst bei einer Bauernfamilie; Jahre später wird er als Mit-Initiator des Züricher Stadiongartens aktiv. Sein besonderes Interesse gilt der Stadtimkerei.
Der Förderverein Städte ohne Hunger hat im Jahr 2018 mit dem Energieversorger Eletropaulo Nutzungsverträge über vier Flächen im Stadtviertel São Mateus in der Ostzone São Paulos geschlossen.
Mit den nun insgesamt fünf Flächen verfügt Städte ohne Hunger erstmals über ein durchgängiges Areal in einer Größe von vier Hektar urbaner Landwirtschaft.
Alle Fotos: © Benedikt Pestalozzi
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